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Austausch Paderborn - Biot

Austausch Paderborn - Biot

von Iris Niemann

Vom 1. bis zum 10. März fuhren zwölf Schülerinnen und Schüler des Jahrgangs 9 an die Côte d’Azur zum Austausch mit dem Collège de l‘Éganaude in Biot, einer kleinen Stadt an der Mittelmeerküste in Frankreich. Begleitet wurden sie von den Französischlehrerinnen Anne-Lise Geburzi und Iris Niemann.

Titelbild

Mittwoch, 1. März

17 Uhr: Die Mittelmeerküste, la Côte d‘Azur, ist sichtbar. Glitzernd liegt das blaue Meer in der Abendsonne vor uns. Smartphones werden gezückt, um die ganze Schönheit festzuhalten. Fasziniert stellen die Schülerinnen und Schüler fest, dass das Gerücht, wir wären direkt am Meer, wohl stimmen könnte. Wir passieren Marseille, Toulon, Cannes und erreichen schließlich Antibes, wo uns die französischen Familien ungeduldig erwarten. Zaghaft werden Hände geschüttelt, schüchtern erste französische und deutsche Worte ausgetauscht. Anschließend geht’s ab mit den kleinen französischen „bagnoles“[1] in die Häuser der Familien. Wir Lehrerinnen stehen etwas erschöpft nach der 15-stündigen Zugfahrt zusammen und freuen uns: Ça y est. On est arrivé![2]

Bei unserer französischen Kollegin Stephanie Bout erwartet uns ein typisch französisches Abendessen: Salat als „entrée“, als „plat“ Schweinebraten mit „Herbes de Provence“, zum „dessert“ eine kleine Tarte. Wir verstehen uns auf Anhieb gut und die „conversation“ beginnt. Für mich gibt es jeden Abend eine kleine „comédie française“: Stephanie und Anne-Lise - beide „franco-allemande“, die eine geboren in Paderborn, die andere in Amiens (Nordfrankreich) - und Serge, der Mann von Stephanie, tauschen gemeinsame französische Kindheits- und Jugenderinnerungen aus. Filme werden zitiert, Lieder gesungen. Ich bin eine begeisterte Zuhörerin und entdecke als einzige Volldeutsche einige kulturelle Lücken, die ich noch aufholen muss.

Donnerstag, 2. März

9 Uhr: Wir sitzen in der Schule und stellen fest, auch die deutschen Schülerinnen und Schüler sind am Abend gut verpflegt worden. Die Franzosen scheinen zu denken, dass wir Deutschen „immer viel Hunger haben“, bemerken die Schülerinnen und Schüler einstimmig. „Ich habe noch nie so viel aus Höflichkeit gegessen.“, gesteht Marie. Die Stimmung ist gut. Auch wenn wir alle gelegentlich den Eindruck haben, in einem Gefängnis gelandet zu sei. Am Eingang werden die Taschen aller Schüler kontrolliert, um 8 Uhr wird das vergitterte Tor geschlossen, wer zu spät kommt, wird notiert und muss höflich um Einlass bitten. Antiterrormaßnahmen in Form von zusätzlichen „barreaux“ verhindern seit einigen Jahren Anschläge, verstärken aber den Eindruck von Abschottung.

Nach außen verriegelt, im Inneren offen. Als wir von der Schulleitung und den französischen Schülerinnen und Schülern empfangen werden, singen alle für uns das Paderbornlied, in das wir stolz einstimmen. Blühende Mimosen schmücken den Saal und machen mir deutlich, wie empfindlich der noch in den Kinderschuhen steckende Austausch eigentlich ist. Bei einer Führung durch die Schule werden wir von allen Seiten herzlich gegrüßt und im Musikunterricht wird spontan für uns gesungen: „Vois sur ton chemin“ aus dem Film „Les choristes“.

Der erste Tag in der Schule ist für uns Deutsche anstrengend. Viele Eindrücke müssen verarbeitet, die Worte manchmal mühsam gefunden werden. So ist es nicht verwunderlich, dass wir alle abends erschöpft in die Betten fallen. Aber nicht ohne vorher noch die Highlights über das Smartphone nach Deutschland verschickt zu haben.

Freitag, 3. März

Während die französischen Schülerinnen und Schüler in der Schule schwitzen - es sind mittlerweile 15 Grad in Südfrankreich, während in Deutschland Schnee fällt - möchten wir Deutschen unter der Führung von Madame Bout einen Ausflug nach Cannes machen. Aber es trifft uns ein typisch französisches Phänomen zum ersten Mal: la grève - STREIK. Busse sind ausgefallen, haben eine andere Route oder hätten vorher reserviert werden müssen. Ein Genie überblickt das Chaos. Uns wird geholfen. Passanten geben Ratschläge, Busfahrer erfinden neue Routen oder halten andere Busse für uns an. Die große Hilfsbereitschaft der Franzosen bringt uns schließlich bis nach Antibes. Bis Cannes hätten wir weitere Verzögerungen auf uns nehmen müssen. Wir beschließen zu bleiben und das kleine Städtchen zu erkunden: ein famoser „Marché“, viele typisch südfranzösische Gässchen und das Meer! Schon wieder wird fotografiert, was das Smartphone hergibt. Wir träumen von einem luxuriösen Leben auf französischen Yachten. Und dann passiert es, ein Smartphone verschwindet zwischen den Felsen am Strand. Während die ersten Franzosen tatsächlich im kalten Meer baden gehen, angeln wir nach dem Handy. Mit Geduld und Ausdauer kriegen wir es schließlich wieder. Quelle chance![3]

Eine riesige Statue des Künstlers Jaume Plensa, der „Nomade“, der im Hafen auf das Meer blickt, lehrt uns, dass im Leben nichts bleibt, wie es ist und sich alles stets verändert, wie die Wolken, die er betrachtet[4]. Wir lassen uns auf das Leben der Franzosen ein, schwimmen mit, lassen uns treiben vom Wind und von den Gedanken. Und das ist auch gut so, wie wir noch merken werden.

Samstag, 4. März und Sonntag, 5. März

Wir verbringen das Wochenende in den französischen Familien und lassen uns zeigen, was ihnen wertvoll ist. Der ganze Reichtum der Region „Provence-Alpes-Côte d’Azur“ offenbart sich uns. Wir besichtigen große und reiche Küstenstädte wie Nizza, Cannes und Monaco, verbringen die Zeit in kleinen ländlichen Dörfern der Provence oder wandern in den Alpen.

Montag, 6. März

9 Uhr: Wir werden gemeinsam mit den französischen Schülerinnen und Schülern durch das Städtchen Biot, das unser Collège umgibt, geführt. Unsere französische Führerin mit finnischen und russischen Wurzeln zeigt uns, dass man in Südfrankreich Menschen vieler Nationen akzeptiert und integriert. Überall grüßt sie die Einwohner und erklärt nebenbei einiges über die Geschichte der Stadt. Wir finden gemeinsam die Spuren der Tempelritter und entdecken mittelalterliche Zeichen und Symbole auf den Häusern.

Kulturell ambitioniert geht es weiter mit einer Führung in der Glasbläserei. Eine eindrucksvolle Mannschaft von fünf Glasbläsern demonstriert ihr Kunsthandwerk. Staunend nehmen wir zur Kenntnis, wie jahrelang erprobte Handgriffe ineinanderwirken und die Kommunikation stumm und reibungslos funktioniert. Auf nahezu magische Weise entstehen edle Gläser mit den für Biot typischen Bläschen im Glas, die durch den Einschluss von Natron entstehen, wie uns erklärt wird.

Nach einer Pause im Garten des Museums, welche die Werke von Fernand Léger[5] präsentiert, fragen wir uns, wie es ein fünf mal zehn Meter großes Gemälde in die Kunsthalle geschafft hat, die lediglich normal große Türen aufweist und deren kleine Fenster es auch nicht ermöglichen.

Dienstag, 7. März

8 Uhr 30: Wir stehen vor der Schule. Streik war angekündigt. Welch große Freude, als der Bus dennoch kommt und uns sicher und zügig nach Nizza bringt. Ein wunderbarer Spaziergang auf der „promenade“ bringt uns der Innenstadt näher. Das strahlendblaue Meer schlägt hohe Wellen. Auch wenn die Farbe zum Baden einlädt, die Temperatur und der Wellengang tun es nicht. Vereinzelt treffen wir Streikende, die sich wohl auf den Weg zum Sammelpunkt machen. Pünktlich um 11 Uhr kommt uns auf dem „Place Masséna“ der Zug der Streikenden entgegen: Wagen mit lauter Musik, Trillerpfeifen, bengalische Feuer. Die Stimmung, die uns entgegenschlägt, ist eine Mischung aus Karneval und Fußballstadion. „Punch“ wird verteilt, um die Stimmung anzuheizen. Die Gendarmerie steht bereit. Noch ist alles friedlich, aber auf den Plakaten stehen eindeutige Parolen: „Non à la retraite à 64ans!“[6] „Monsieur le Président“ möchte die Franzosen zwei Jahr länger arbeiten lassen. In der Woche zuvor wurden wir deutsche Lehrerinnen in einem Deutschkurs im Lycée[7] gefragt, wie lange man denn in Deutschland arbeiten würde. Die höhere Wochen- und auch die höhere Lebensarbeitszeit stoßen auf großes Erstaunen. Abends im Fernsehen werden die Streikenden in vielen französischen Städten gezeigt: Jung und Alt ist gemeinsam auf den Beinen, um gegen die empfundene Ungerechtigkeit vorzugehen. Typisch Französisch! Ein Erbe der französischen Revolution, das sich uns Deutschen in dieser Woche noch öfter zeigen wird.

Mittwoch, 8. März

Die Schülerinnen und Schüler lernen in der Schule: les maths, la musique, l‘anglais[8] und la cantine… Und die Gruppe wächst zusammen. Ein gemeinsames Picknick, organisiert von den französischen Schülerinnen und Schülern gibt Gelegenheit zum Austausch. Essen ist wichtig für die Franzosen. Es gibt eigentlich keine Party ohne ein Essen.

Donnerstag, 9. März

Wir erkunden Grasse. „Hat denn niemand ‚Das Parfüm‘ von Patrick Süßkind gelesen?“ Die Antworten auf die Frage von Madame Bout fallen negativ aus. Es spielt im mittelalterlichen Grasse und erzählt die Geschichte des Frauenmörders Jean Baptiste Grenouille, der den Duft von Frauenkörpern im Parfüm zu konservieren versucht. Schnell wird klar, wofür Grasse berühmt ist: seine Düfte. Wir besichtigen die Parfümerie „Fragonard“, erfahren, dass jedes Parfüm eine „note de base“ und eine „note de tête“[9] hat und wie „Monsieur“ oder „Madame le nez“, die staatlich geprüften „Nasen“, auf der Duftorgel spielen, um ein Parfüm zu komponieren. Der Besuch gipfelt in der Boutique und wir dürfen schnuppern und kaufen. Es wird gesprüht, gewedelt, gelacht oder die Nase gerümpft. Am Ende sind wir alle um ein paar Euro leichter. Aber es ist gewiss, duften werden wir auf der Rückfahrt und auf der abendlichen Party.

„La Boum“, eine Abschiedsparty, wurde von den Franzosen liebevoll vorbereitet. Wir treffen uns am Abend in einem Gemeindezentrum. Die Franzosen haben alle Leckereien vorbereitet, die das Herz begehrt. Es wird geschlemmt und gequatscht. Wir versichern uns gegenseitig, dass alles gut geklappt hat und sind froh, dass der Gegenbesuch Ende März stattfinden kann. Französische und deutsche Musik untermalen die Stimmung und ausgelassen feiern wir den Abschluss des Austauschs ins Frankreich.

Freitag, 10. März

6 Uhr 45 am Bahnhof von Antibes, der Schock: Unser Zug nach Straßburg ist annulliert - STREIK! Damit ist unsere Rückreise in Gefahr. Die streikenden Franzosen, bisher ein „amusement“ für die deutschen Seelen, werden zur „catastrophe“. „Wir hätten eben nicht Macron wählen dürfen.“, ist die erste Auskunft des Bediensteten hinter dem Schalter. Nur, dass wir ihn nicht gewählt haben und uns als Opfer fühlen. Was sollen wir tun? Nichts ist sicher, die Wolken verändern sich stets. Wie recht Baudelaire hatte. Und so schwimmen wir wieder, zunächst in Angst und dann im Flow. Die Franzosen helfen uns. Ein freundlicher Beamter der SNCF[10] organisiert uns einen späteren Zug, der uns nach Paris, also näher an die ersehnte Heimat bringt. Und dann? Wir telefonieren und recherchieren. Herr Rüther findet schließlich die Rettung, den Flixbus von Paris nach Bielefeld. Fix den Flixbus gebucht und ab in den Zug nach Paris.

Und dann der Bonus: Sechs Stunden in der Stadt der Liebe! Wir genießen ein letztes Mal die französische Umgebung (Quartier Latin, Notre Dame, Hôtel de Ville, Centre Pompidou), bevor die Nachtfahrt beginnt.

Am anderen Tag, zehn Stunden später als geplant, erreichen wir vollkommen erschöpft Bielefeld. Die Eltern sind froh uns wiederzuhaben und schließen ihre Kinder in die Arme. Die letzte Etappe dürfen wir - ein Hoch auf die flexiblen Eltern - im Auto nach Hause gondeln. Während mir schon fast die Augen zufallen, denke ich, dass der Austausch wirklich gelungen ist. Wir haben viele herzliche Franzosen kennengelernt. Der Grundstein für einen hoffentlich andauernden Austausch ist gelegt. Und auch wenn es nicht immer einfach war, jede Minute im Zug, im Bus und in der Metro haben sich gelohnt, um eines der abwechslungsreichsten Länder Europas kennenzulernen, um Freundschaften zu knüpfen und um die Sprache zu verbessern!

 

[1] une bagnole – Auto, Karre

[2] Ça y est. On est arrivé. – Geschafft. Wir sind angekommen.

[3] Quelle chance! – Was für ein Glück!

[4] Auf einer Tafel finden wir folgende Inschrift:

Qui aimes-tu le mieux, homme énigmatique, dis ? ton père, ta mère, ta sœur ou ton frère ?

Je n’ai ni père, ni mère, ni sœur, ni frère.

Tes amis ?

Vous vous servez là d’une parole dont le sens m’est resté jusqu’à ce jour inconnu.

Ta patrie ?

J’ignore sous quelle latitude elle est située.

La beauté ?

Je l’aimerais volontiers, déesse et immortelle.

L’or ?

Je le hais comme vous haïssez Dieu.

Eh! qu’aimes-tu donc, extraordinaire étranger ?

J’aime les nuages… les nuages qui passent… là-bas… là-bas… les merveilleux nuages !

Charles Baudelaire, « L’étranger » dans Le Spleen de Paris (1869)

[5] Französischer Maler und Bildhauer (1881-1955)

[6] Non à la retraite à 64 ans ! – Nein zur Rente mit 64 !

[7] e lycée – französische Oberstufe

[8] l’anglais - Englisch

[9] note de base und note de tête – Baisnote und Kopfnote

[10] SNCF – französische Bahngesellschaft

 

Text / Fotos: I. Niemann